Rezension über:

Markus Krumm: Herrschaftsumbruch und Historiographie. Zeitgeschichtsschreibung als Krisenbewältigung bei Alexander von Telese und Falco von Benevent (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom; Bd. 141), Berlin: de Gruyter 2021, XIII + 447 S., eine s/w-Abb., 2 Tbl., ISBN 978-3-11-072001-3, EUR 119,95
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Rezension von:
Giuseppe Cusa
Historisches Seminar, Universität Siegen
Redaktionelle Betreuung:
Étienne Doublier
Empfohlene Zitierweise:
Giuseppe Cusa: Rezension von: Markus Krumm: Herrschaftsumbruch und Historiographie. Zeitgeschichtsschreibung als Krisenbewältigung bei Alexander von Telese und Falco von Benevent, Berlin: de Gruyter 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 4 [15.04.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/04/36105.html


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Markus Krumm: Herrschaftsumbruch und Historiographie

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Die deutschsprachige Mediävistik hat bekanntlich gewichtige Arbeiten zum italienischen Mittelalter vorgelegt, etwa zur hoch- wie spätmittelalterlichen Historiographie oder zum normannischen Mezzogiorno. Markus Krumm verbindet die beiden Themenfelder und untersucht in seiner Münchner Dissertation die Geschichtswerke Alexanders von Telese und Falcos von Benevent.

Diese beiden historiographischen Schriften enthalten die wohl dichtesten zeitgenössischen Schilderungen zu den Umbruchsprozessen im Süditalien der 1120-30er Jahre. Wenngleich man sich der als antithetisch betrachteten Werke schon des Öfteren angenommen hat, bleiben grundlegende Aspekte wie Entstehungszeit, Schreibanlass oder Darstellungsabsicht kontrovers diskutiert. Dies liege auch daran, dass "lokale Entstehungszusammenhänge und persönliche Motive der beiden Verfasser" kaum berücksichtigt worden seien (18). Ebenda setzt Krumms Studie an, in der die Werke als "Überreste lokaler Krisenbewältigungen" (5) und "Reaktion auf lokale Auswirkungen des Herrschaftsumbruchs" (44) verstanden werden.

Die konzise Einleitung thematisiert Forschungsstand und -desiderate, Überlieferungs- und Editionslage, zu vermeidende Fallstricke und angewandte Analysekategorien (1-46). Anschließend folgen zwei analog strukturierte Teile zur Ystoria Abt Alexanders (47-172) und zum Chronicon des Richters Falco (173-344), die sich den Verfassern, ihren causae scribendi und Narrativen annehmen.

Die Ystoria ist in vier Bücher unterteilt und deckt den Zeitraum von 1127 bis 1136 ab. Krumm datiert ihre Abfassung zwischen September 1135 und Mai/Juni 1136, wofür textimmanente Befunde und die politischen Entwicklungen sprächen. Denn ab 1134/35 konnte sich der Normannenkönig Roger II. in der Region gegen seine Kontrahenten durchsetzen, darunter Rainulf von Caiazzo, in dessen Grafschaft das vermutlich von seinen Vorfahren gegründete Kloster San Salvatore in Telese lag. In dieser ungewissen Lage habe der Abt sein Werk verfasst und als Reaktion auf den "Wandel des klösterlichen Beziehungsnetzes" dem König zugeeignet (59).

Überzeugend dekonstruiert Krumm drei Grundannahmen: Rainulf wird wegen einer Textstelle (III,30) gemeinhin als Unterdrücker des Klosters betrachtet, doch sei die Passage vielmehr ein "effektvoll inszenierte[s] Bild" (60), um sich gegenüber dem royalen Adressaten als hilfsbedürftig darzustellen und von seinem Opponenten zu distanzieren. Obwohl sich Abt und Graf offenbar entfremdet hätten, sei deren Beziehung vielseitiger gewesen als dargestellt, zumal der Historiograph das Verhalten Rainulfs gegenüber Roger II. mehrfach zu rechtfertigen versucht (59-67). Ferner sei das Verhältnis zwischen Abt und König anders als angenommen nicht konsolidiert gewesen, doch hätten die Klostergemeinschaft und ihr Vorsteher durch Gebetsverbrüderungen mit Roger und seinem Sohn Anfusus ihre Bindung festigen wollen. Hierzu sollte auch die Ystoria dienen, in der ihr Verfasser den König an seine Zusagen an das und Verpflichtungen gegenüber dem Kloster erinnerte (67-91). Deshalb wiederum sei die im Werk genannte importuna precatio der Gräfin Matilda (zugleich Schwester Rogers II.) nicht als Schreibauftrag, sondern als Autorisierungsstrategie zu verstehen (91-99).

Überdies habe Alexander beabsichtigt, den göttlichen Willen für Roger II. "in Handlungsanweisungen zu übersetzen" (143). Sein Werk sei daher paränetisch, denn vermittels Rogers eigener Handlungen und denen weiterer zeitgenössischer Akteure, biblischer Beispiele und Traumerzählungen habe er den König an seine Pflichten erinnern wollen - insbesondere an die Wahrung von Demut und Barmherzigkeit sowie die Durchsetzung von Frieden und Gerechtigkeit -, sodass er seine prekäre Autorität in der Region stabilisieren könne (108-128, 145-172).

Im benachbarten Benevent lenkten päpstliche Rektoren die Stadt und stützten sich auf lokale Getreue, allen voran iudices wie Falco, der ab 1115 als städtischer Notar, ab 1132/33 als Richter nachweisbar ist (183-187). Doch waren die politischen Verhältnisse instabil, die Jahre 1128-1139 besonders turbulent. Die neu konstituierte communitas, adlige Parteiungen sowie die um Obödienz ringenden Päpste Anaklet II. und Innozenz II. konnten sich mit wechselndem Erfolg behaupten (187-206). Die Lage stabilisierte sich im Juli 1139 mit dem Frieden von Mignano, nach dem Falco sein fragmentarisch überliefertes, wohl 1101 einsetzendes Chronicon niedergeschrieben habe. Krumm spricht sich folglich für eine andere Datierung des Werks aus als etwa Graham Loud oder Marino Zabbia, denn Falco schildere rückblickend "die Etablierung der Stadtherrschaft Innozenz' II." (219).

Falco spricht wiederholt einen an den berichteten Ereignissen unbeteiligten geistlichen Leser an (207-217), bei dem es sich um die von Innozenz II. entsandten Rektoren handele. Da es ebenjenen an Kenntnissen der lokalen Begebenheiten mangelte, habe der Chronist ihnen das nötige historische Wissen zur Verfügung stellen wollen, für dessen Zusammenstellung er Historiographien, Hagiographien, Papstschreiben oder Notarsinstrumente heranzog (252-266). In seiner Darstellung der Krisen päpstlicher Autorität des frühen 12. Jahrhunderts habe sich Falco indes Verzerrungen erlaubt (273-308). Auch die für den Pontifex schmachvolle Investitur Rogers II. mit dem Herzogtum Apulien von 1128 oder die gemeinsam mit diesem 1137 vollzogene Belehnung Rainulfs von Caiazzo mit demselben Dukat hält er in einem Bericht fest, in dem er die päpstliche Ehre zu wahren bzw. den päpstlichen Vorrang herauszustellen versucht (284-298). Roger II. präsentiert er hingegen zunächst als gierigen, später als grausamen Herrscher (321-337). Außerdem legt er die ambivalenten Loyalitäten innerhalb der Stadtmauern dar, wobei er seine eigenen Verdienste und jene einiger Mitbürger hervorhebt, wohingegen er den Rektoren Innozenz' II. seine eventuelle einstige Parteinahme für Anaklet II. verschweigt (309-320).

Im Fazit werden die zahlreichen Detailbefunde gebündelt (345-354). Vier Anhänge korrigieren die fehlerhaften Lesarten in der Edition der Ystoria, die mit dem einzigen Textzeugen abgeglichen wurde (361-368), regestieren die von Falco ausgestellten Urkunden (369-376), bieten Aufstellungen zu den Notaren und Richtern Benevents 1100-1150 (377-385) und behandeln die Authentizität der womöglich von Alexander von Telese verfassten Istoria d'Allifo (387-391). Zur Erschließung dienen ein Quellen- und Literaturverzeichnis (395-433) sowie ein Personen- und Ortsregister (435-447).

Krumm hat eine lesenswerte Studie vorgelegt, die durch eine aufmerksame Quellenlektüre und -exegese besticht, dank der er zu zahlreichen offenen Kontroversen Stellung beziehen kann. Zwar liegt die Stärke der Arbeit gerade in der intensiven Betrachtung der beiden Geschichtswerke, an der einen oder anderen Stelle hätte man jedoch einen Seitenblick auf weitere Chroniken und Annalen wagen können. Ungeachtet dessen überzeugen die Argumentationen und Thesen, die so manche geläufige Vorannahme revidieren. Es bleibt zu wünschen, dass die internationale Forschung sie gebührend rezipiert.

Giuseppe Cusa