Rezension über:

Philippe Borgeaud: Mother of the Gods. From Cybele to the Virgin Mary. Translated by Lysa Hochroth, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2004, XIX + 186 S., ISBN 978-0-8018-7985-2, USD 49,95
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Rezension von:
Henrike Maria Zilling
Institut für Geschichte und Kunstgeschichte, Technische Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Henrike Maria Zilling: Rezension von: Philippe Borgeaud: Mother of the Gods. From Cybele to the Virgin Mary. Translated by Lysa Hochroth, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 9 [15.09.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/09/7714.html


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Philippe Borgeaud: Mother of the Gods

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Kybele, die phrygische Muttergottheit, Fruchtbarkeitsgöttin und Stadtbeschützerin mit Mauerkrone, kennen wir trotz ihrer zentralanatolischen Herkunft vor allem durch ihre Einführung in Griechenland als 'Meter Megale' und in Rom als 'Mater Magna'. Ihre Bezeichnung als große Muttergottheit fand auch für andere Göttinnen Verwendung, so etwa für Gaia, Rhea und Demeter, und schuf so Identifizierungsmöglichkeiten (8).

Der nun in englischer Sprache vorliegende Titel 'Mother of the Gods' des in Genf lehrenden Religionshistorikers Borgeaud verspricht eine umfassende Darstellung des Kybelekultes. Eine solche bietet das Buch nur bedingt, da der Autor die Forschungskontroverse über den phrygischen Hintergrund der Göttin, die Kybele-Heiligtümer und Kybele-Ikonografie, nur kurz darstellt. Ihn interessiert der Aufstieg der Göttin in Griechenland und Rom. Dabei untersucht er die Rolle der Meter auf der athenischen Agora, ihren Einzug in Rom im Jahr 204 v. Chr., den mythologischen Hintergrund ihrer Beziehung zum göttlichen Hirtenjüngling Attis sowie die religiösen und rituellen Verflechtungen der Kultgemeinschaft der Kybele und des Attis mit dem frühen Christentum.

Gleich zu Anfang räumt Borgeaud mit zwei modernen Thesen auf - zum einen mit dem Mythos, die Göttin personifiziere eine Art übergeordnete weibliche Gottheit, zum anderen mit der unbewiesenen Behauptung, es gebe eine direkte Verbindungslinie von der Mater Magna zur Jungfrau und Gottesmutter Maria, welche Kybele gewissermaßen abgelöst habe. Hier erscheint der Untertitel etwas irreführend, könnte doch die Ankündigung 'From Cybele to the Virgin Mary' genau diese Ableitung nahe legen. Borgeaud geht es dagegen darum, die "multidirektionalen Interferenzen" zwischen dem Kult der paganen Göttin und der Jungfrau Maria nachzuweisen. Völlig zuzustimmen ist dem Autor, wenn er konstatiert: "These two modern myths obstructing the pathways to Cybele end up bearing the same message [...] the Mother of the gods serves as an argument for the fantasy of a feminine monotheism" (XVI).

Zunächst porträtiert Borgeaud Kybele als reisende Göttin. Er verfolgt dabei ihre wichtigsten Verbreitungswege, die von Anatolien, den kleinasiatischen Küstenstädten nach Griechenland, Unteritalien, Rom und schließlich sogar bis nach Südfrankreich führen. Borgeaud betont den ambivalenten Status der Meter in Athen. Dort hatte man der Göttin das metroon errichtet, also einen Bezirk und Tempel mit einer Statue des Agorakritos von Paros, eines Phidiasschülers. Dessen Gestaltung der Meter als beidseitig von Löwen flankierte, thronende Göttin mit Tympanon in der Hand sollte ihre Ikonografie dann in der Folgezeit bestimmen (7). In Athen impliziert besonders die Lage des metroon, welches in enger Verbindung zum buleuterion stand (Pausanias 1,3,5), eine politische Konnotation des Kybelekultes. Auf jeden Fall galt sie als mächtige Wächterin über das Staatsarchiv. Borgeaud meint sogar, dass Kybele zeitweilig die Agora regelrecht beherrscht habe. Dabei weist er darauf hin, wie stark sie gleichzeitig als Furcht einflößende und fremde Göttin wirkte: "The mother reworks herself as a foreign deity" (29). Etwas problematisch ist, dass bei Borgeaud die Göttin fähig ist, ihre Stellung und ihr Ansehen gleichsam selbst zu steuern.

Spannend ist Borgeauds Erklärungsansatz für dieses inkonsistente Kybelebild. Denn er bezeichnet gerade die Doppelidentität der Göttin (29 f.), ihr wechselhaftes und widersprüchliches Image, als wesentlich. Auch in Rom sind diese zwei Facetten präsent. Dort genoss sie als fremde Muttergöttin Verehrung und galt dann wieder als Ahnherrin der Römer, die sich in eine Beziehung mit dem Berg Ida der Troas stellten. In der wegen der komplizierten Quellenlage umstrittenen Frage [1], von wo aus ihre Einführung in Rom im Jahre 204 v. Chr. erfolgte, spricht Borgeaud sich ohne Umwege für den pessinuntischen Kult aus (78 f.).

Einen breiten Raum in Borgeauds Darstellung nimmt die kontroverse Figur des Attis [2] ein, der eine mythologische Identifikationsfigur für die Eunuchenpriester der galli bildete (39 f.). Deren Kastrationsspektakel sorgten in der antiken Welt für Aufsehen. Ihre freiwillige Entmannung war ein schockierendes und bedrohliches Stigma, galt doch für Griechen und Römer die Kastration als Selbstverstümmelung, welche die Betreffenden isolierte, weil sie sich dem auf Reproduktion angelegten Staatskörper entzogen.

Faszinierend ist vor allem Borgeauds Analyse der längsten Attis- und Agdistislegende des frisch zum Christentum konvertierten Nordafrikaners Arnobius, der Timotheos den Eumolpiden als Quelle angibt (44-49). Arnobius bezweckt mit dem Mythos einen mit triebhaften Aspekten aufgeladenen, blutigen Hintergrund zu schaffen, von dem er die reine Jungfräulichkeit Mariens abheben kann (Arnobius, Adversus Nationes 5,5-7). Danach wurde der unverwesliche Leichnam des entmannten Attis zum Bezugspunkt jährlicher ritueller Verehrung in Pessinus durch eine Priesterschaft von Kastraten. Die zentrale Aussage liegt in der Bändigung des Wilden in der Gestalt des bisexuellen Monsters und Attisgeliebten Agdistis und des rasenden Jünglings Attis, die jeweils durch ihre Entmannung erreicht wird. Borgeaud verortet den Attismythos in das Konfliktfeld zwischen städtischer Zivilisation und der diese umgebenden Wildnis. Er sieht darin den Versuch, das Eindringen barbarischer, ungebändigter Bereiche in die Stadt abzuwehren (56).

Abschließend beleuchtet Borgeaud den sich vom Kybelekult emanzipierenden Kultus ihres jugendlichen Begleiters Attis während der Kaiserzeit. Er bespricht dabei auch ausführlich die abwertenden Stellungnahmen der Kirchenväter zur Keuschheit und gescheiterten Auferstehung des Attis sowie zur Enthaltsamkeit der galli, gegen die es sich von christlicher Seite abzugrenzen galt (99-101).

Die Monografie besticht durch ihre spannenden Analysen und die klaren Positionen, die sich auf eine diskursive Auseinandersetzung mit den widersprüchlichen Aussagen in der literarischen Überlieferung und eine wohltuend kurz gehaltene Diskussion des Forschungskontextes stützen können. Insgesamt bietet Borgeaud innovative Ansätze für das Verständnis antiker Religionen und Kulte. Seine Konzeption führt eindrucksvoll Einflüsse, Überschneidungen und Vermischungen unterschiedlicher Kulttraditionen vor Augen. Überzeugend ist auch seine Sicht auf die veränderliche kulturelle Identität einer Gottheit, in der Kybele als liebende Mutter und dann wieder als skandalöse Geliebte oder als ungezähmte, fremde Göttin und gleichzeitig als Schutzpatronin städtischer Zivilisation erscheint. Im Sinne Versnels [3] repräsentiert Kybele die "Multiperspektivität" einer Gottheit: zum einen das Vorhandensein einer anthropomorphen und zugleich göttlichen Persönlichkeit, zum anderen den Dualismus an und für sich gegensätzlicher Qualitäten wie fürsorglicher und bedrohlicher Wesenzüge in einer und derselben Göttin.

So fragt man sich, warum diese originelle und packend geschriebene Darstellung erst acht Jahre nach Erscheinen der französischen Originalausgabe für ein englischsprachiges Lesepublikum übersetzt wurde - Borgeaud verweist dankenswerterweise im Vorwort zur englischen Ausgabe auf die Neuerscheinungen zum Thema seit 1996. Es bleibt zu hoffen, dass eine deutsche Übersetzung bald folgen wird.


Anmerkungen:

[1] L. E. Roller: In Search of God the Mother: The Cult of Anatolian Cybele, Berkeley 1999; P. J. Burton: The Summoning of the Magna Mater to Rome (205 B.C.), in: Historia 45 (1996), 36-63.

[2] E. Lane (Hg.): Cybele, Attis, and Related Cults, Leiden 1996.

[3] H. S. Versnel: Inconsistencies in Greek and Roman Religion, 2 Bde., Leiden 1990-1993.

Henrike Maria Zilling