Rezension über:

Magdalena Holdar: Fluxus as a Network of Friends, Strangers, and Things. The Agency of Chance Collaborations (= Studies in Art & Materiality; Vol. 6), Leiden / Boston: Brill 2022, XII + 210 S., ISBN 978-90-04-51221-4, EUR 105,93
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Rezension von:
Alexa Dobelmann
Staatsgalerie Stuttgart / Institut für Kunstgeschichte, Universität Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Christian Berger
Empfohlene Zitierweise:
Alexa Dobelmann: Rezension von: Magdalena Holdar: Fluxus as a Network of Friends, Strangers, and Things. The Agency of Chance Collaborations, Leiden / Boston: Brill 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 4 [15.04.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/04/38259.html


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Magdalena Holdar: Fluxus as a Network of Friends, Strangers, and Things

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In ihrer 2023 erschienen Publikation Fluxus as a Network of Friends, Strangers, and Things: The Agency of Chance Collaborations thematisiert die schwedische Kunsthistorikerin Magdalena Holdar Fluxus-Netzwerke mit einem Fokus auf den nordeuropäischen Raum. Die Beachtung der nordischen Aktionen und Akteur*innen bildet in der internationalen Fluxus-Forschung bisher ein weitgehendes Desiderat. An Ausnahmen wären hier beispielhaft die Forscherin Ina Blom zu nennen, deren Publikationen im Diskurs angekommen sind und rezipiert werden, sowie einige Texte der beteiligten Künstler*innen selbst. [1] Holdar führt zahlreiche auf Skandinavisch verfasste Quellen sowie Sekundärliteratur mit Übersetzungen an und bietet einen Einblick, der bisher nicht gegeben wurde. Die Autorin schafft hiermit Zugänglichkeit für ein internationales Publikum. Größtenteils wird auf die gängige Forschungsliteratur eingegangen. Lediglich die Dissertation von Natilee Harren, die 2020 erschien und ebenfalls den Netzwerkcharakter von Fluxus untersucht, ist leider nicht mehr in das vorliegende Buch mit eingeflossen. [2] Bei der Literaturauswahl ist auffallend, dass überdurchschnittlich viele Personen, die sich künstlerisch betätigt haben, auch theoretisch aktiv waren. So ist es auch im Falle des Fluxus-Akteurs Bengt af Klintberg, auf den sich Holdar immer wieder beruft.

Der Studie ging eine intensive Recherche in Archiven voraus, die in beeindruckender Klarheit und Stringenz zusammengeführt wurde. Den Informationsgehalt der Dokumente - größtenteils Briefe und Zeitungsartikel - gibt die Autorin jeweils knapp und konzise wieder. Dabei arbeitet sie methodisch mit der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von Bruno Latour und strukturiert die untersuchten Ereignisse in schlüssig nachvollziehbarer Weise. In spezifische Hintergründe wird vorab eingeführt, sodass sich die Studie sowohl für Leser*innen ohne tieferes Vorwissen eignet als auch für ein spezialisiertes Publikum. Gleichzeitig bietet das Buch sprachlich und inhaltlich Freude am Lesen. Dies gilt besonders für Holdars exzellente, anschauliche Beschreibungen, die tief in die Materie eintauchen lassen und ein präzises Verständnis des Felds vermitteln.

In der Einleitung stellt Holdar ihre Methode vor, benennt Papier als zentrales Material ihrer Forschung und erläutert die Begriffe, die anschließend verwendet werden. An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass das Buch als sechster Band der Studies in Art & Materiality bei Brill erscheint und hervorragend in diese Reihe passt. Neben den menschlichen Akteur*innen behandelt die Autorin auch Gegenstände wie Briefe, Zeitungsartikel und andere Dokumente, bis hin zu Kunstwerken wie Paper Piece von Benjamin Patterson oder Make a Big Paper Glider von Milan Knížák - zwei Beispiele, auf die sie im Verlauf der Untersuchung immer wieder zurückkommt - und arbeitet deren "non-human agency" (133) heraus. Dass Dokumente, die bei Fluxus noch auf Papier statt digital zirkulieren, für konzeptuelle Kunstformen im allgemeineren und für Fluxus im speziellen relevant sind, hat bereits Jessica Santone in ihrem Aufsatz Documentation as Group Activity. Performing the Fluxus Network dargelegt. [3] Darauf aufbauend bespricht Holdar bekannte und weniger bekannte Fallbeispiele. Wichtige Erkenntnisse, die aus den Dokumenten abgeleitet werden können, sind erstens: Ohne Archivarbeit ist Forschung, die Netzwerke untersucht, nicht möglich. Und zweitens: Auch das Sammeln von Ephemera ist essenziell für die kunsthistorische Forschung, sodass der besondere Wert einer Sammlung auch gerade in den enthaltenen Archivalien - statt lediglich Kunstwerken - liegen kann. Ohnehin ist diese Grenze nicht immer trennscharf zu ziehen.

Auch wenn sich Fluxus besonders gut eignet, um die Relevanz von Netzwerken für die Gruppendynamik und die Kunstproduktion zu beschreiben, benennt Holdar das Knüpfen und Unterhalten solcher Netzwerke als gängige Künstler*innenpraxis. Dabei ist es formal richtig, wenn sie Netzwerke per se als nicht hierarchisch darstellt: "A network is a flat organisation. Relevance is based on activity, not on external power structures [...]." (9) Dennoch nivelliert diese Perspektive Machtstrukturen, die innerhalb eines sozialen Gefüges immer auftreten können. Diese Asymmetrien fängt die Untersuchung durch die Hervorhebung von marginalisierten Positionen auf.

In Network Nodes and Nodes for Networking, dem zweiten Kapitel, beginnt die Autorin chronologisch mit einer Art Vorgeschichte: Sie betrachtet die Kunstszene in Köln, genauer das Atelier von Mary Bauermeister, die sie in das Fluxus-Umfeld einschreibt und deren kuratorische Arbeit im weiteren Sinne - also auch das Ermöglichen von Kunst - sie herausarbeitet. Holdar gibt an, dass Bauermeister bisher im Fluxus-Kontext wenig Beachtung erfahren hätte, was zumindest für den deutschsprachigen Raum nicht zutrifft. [4] Von Mary Bauermeister und Karl Heinz Stockhausen sowie Charlotte Moorman und Nam June Paik ausgehend, konstruiert die Autorin einen kohärenten Erzählstrang, der weibliche Positionen als gleichwertige Akteur*innen innerhalb eines männlich dominierten Gefüges präsentiert und mit alleinigen Zuschreibungen an den männlichen Künstler bricht. Holdar wendet sich hier gegen patriarchale Hierarchien, prangert diese aber nicht explizit an. Von dieser Subtilität profitiert die Untersuchung. Von Köln geht die Reise über weitere Stationen wie das New Yorker Avant-Garde Festival oder eine Aufführung der kollektiven Arbeit Originale in der Judson Hall, ebenfalls in New York, bis nach Humlebæk, Stockholm und Oslo, wo Nam June Paik im Rahmen seiner Action Music Tour auftrat. An den einzelnen Orten werden jeweils neue Protagonist*innen eingeführt. Konsequenterweise werden sowohl Institutionen und Personen als auch Ausstellungen als relevante Akteur*innen verstanden. Erfreulich ist, dass Holdar sich nicht auf nordische Positionen beschränkt, sondern weitere Beispiele wie Nam June Paik und Charlotte Moorman anführt, die zunächst scheinbar wenig mit der skandinavischen Kunstszene zu tun haben. Die Autorin macht präzise die Verbindung von Paik nach Skandinavien nachvollziehbar, ohne die Aussagekraft einzelner Details überzustrapazieren. Dabei zieht sie stets Verbindungslinien zum Ausgangspunkt ihrer Argumentation sowie zu parallelen Tendenzen, die andernorts im Buch behandelt werden.

Im folgenden Kapitel With Help from Friends and Strangers wird das Netzwerk in den nordischen Staaten und darin hauptsächlich Bengt af Klintberg als wichtiger Akteur behandelt. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, werden verschiedene Knoten dieses Netzwerks verbunden und manche Positionen stärker (Bengt af Klintberg), andere weniger stark (Henning Christiansen) beleuchtet. Hier verdeutlicht die Autorin insbesondere den transnationalen Charakter des Fluxus-Netzwerks, das etwa von Köln bis New York oder von Kopenhagen bis Tokio reichte.

Auf die kollaborative künstlerische Praxis wird im Kapitel Chance Collaborations Bezug genommen. Anstatt der in der Forschung vielfach besprochenen Werkreihe Spatial Poems von Mieko Shiomi wird insbesondere deren weniger bekannter Arbeit Fluxus Balance starke Beachtung zuteil, was spannende Einblicke in die spezifische künstlerische Praxis dieser wichtigen Fluxus-Künstlerin und des gesamten Netzwerks ermöglicht. Ebenfalls legt Holdar plausibel dar, warum Per Kirkeby von George Maciunas zum Leiter von Fluxus North gemacht wurde, obwohl er außer einer Edition unter dem Vertrieb bzw. Copyright von Fluxus keine künstlerische Übereinstimmung aufweist.

In der abschließenden Zusammenfassung überführt die Autorin ihre Untersuchung auf eine Makroebene. Viele bereits verhandelte Beispiele werden erneut aufgegriffen und in einen größeren Kontext gestellt. Vielleicht wäre es eleganter gewesen, diese Punkte direkt bei der ersten Erwähnung zu verhandeln, um Redundanzen zu vermeiden. Zugleich kann man diese Praxis des Wiederaufgreifens vorheriger Beobachtungen als roten Faden verstehen, der sich durch das Buch zieht. Abschließend lässt sich sagen: Die Publikation nimmt Objekte, Personen und Aktionen in den Fokus, die bisher zu Unrecht zu wenig Beachtung erfahren haben. Dabei vermittelt Holdar eine künstlerische Einheit, die über räumliche und personelle Distanzen hinweg Verbindungen schafft und Fluxus als engmaschiges Netzwerk verständlich macht.


Anmerkungen:

[1] Beispielhaft sind hier anzuführen: Ken Friedman / Ina Blom (Hgg.): The Fluxus Performance Workbook, Trondheim 1990 und Ina Blom: Shifting Affiliations & Conflicting Visions. A Short Note on Fluxus in Scandinavia, in: O que é Fluxus ? O que não é! O porquê, hg. von Jon Hendricks, Brasília 2002, 46-49.

[2] Natilee Harren: Fluxus Forms. Scores, Multiples, and the Eternal Network, Chicago / London 2020.

[3] Jessica Santone: Documentation as Group Activity. Performing the Fluxus Network, in: Visual Resources 32/3-4 (2016), 263-281.

[4] Wilfred Dörstel / Rainer Steinberg / Robert von Zahn: The Bauermeister Studio. Proto-Fluxus in Cologne 1960-62, in: Fluxus Virus, hg. von Christel Schüppenhauer, Köln 1992, 56-67.

Alexa Dobelmann