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Harald Jentsch: Robert Siewert (1887-1973). Eine Biografie, Berlin: Verlag am Park 2023, 396 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-89793-371-2, EUR 25,00
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Rezension von:
Jens Becker
Düsseldorf
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Jens Becker: Rezension von: Harald Jentsch: Robert Siewert (1887-1973). Eine Biografie, Berlin: Verlag am Park 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 4 [15.04.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/04/38670.html


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Harald Jentsch: Robert Siewert (1887-1973)

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Kurz nach dem 50. Todestag von Robert Siewert (1887-1973) legt der Politikwissenschaftler Harald Jentsch eine Biografie vor, die wichtige Stationen von Siewerts politischem Wirken beschreibt. Als Quellenbasis dienen ihm unter anderem Archivalien aus dem Stiftung Archiv des Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR im Bundesarchiv, des Weiteren etliche DDR-Quellen, Gerichtsakten sowie Kontakte zu Siewerts Enkel Eberhard und dessen Frau Gretel. Inspiriert wurde Jentsch insbesondere von dem 2017 verstorbenen Kommunistische Partei-Opposition- (KPD-O-)Forscher Theodor Bergmann, der Siewert als kritischen Kommunisten kennen und schätzen lernte.

Bereits eine unvollständige Aufzählung der Funktionen, die der Arbeiterfunktionär Siewert im "Jahrhundert der Katastrophen" (Theodor Bergmann) einnahm, verdeutlicht, dass es sich um eine politische Persönlichkeit handelt, die bislang nicht angemessen in die gesamtdeutsche Erinnerungskultur aufgenommen wurde. Mit Ausnahme weniger lexikalischer Porträts geriet der Gewerkschafter und Sozialdemokrat, Kommunist und KPD-Oppositionelle, Widerstandskämpfer und Buchenwaldüberlebende, stellvertretende Vizepräsident und Innenminister der Provinz Sachsen, kurz der SED-Multifunktionär Robert Siewert nach der "Wende" 1989 in Vergessenheit. Anders dagegen war es in der DDR, die Siewert zeitweise wichtige Funktionen im Staatsapparat übertrug und ihn als Repräsentanten einer antifaschistischen Erinnerungskultur würdigte. Vor diesem Hintergrund versucht der Biograf Siewerts vielschichtiges Lebenswerk einzuordnen.

Dem im preußischen Schwersenz (heute polnisch Swarzędz) geborenen und ab 1898 in Berlin aufwachsenden Sohn eines verarmten Bauunternehmers drängte es schon als Maurerlehrling in die Arbeiterbewegung. Siewerts politische Lernerfahrungen arbeitet der Autor anhand der Wanderjahre in Deutschland und der Schweiz heraus (29-59). Im Züricher Vereinshaus "Eintracht" lernte Siewert seine langjährigen Weggefährten Heinrich Brandler und Fritz Heckert kennen. Auch eine ihn prägende Begegnung mit Lenin 1911 ist überliefert (49). Von 1915-1918 musste Siewert als Soldat im Baltikum und in Weißrussland dienen. Es gelang ihm, Kontakte zur Antikriegsopposition aufrechtzuerhalten (62). Retrospektiv verweist Siewert auf die Auswirkungen der Russischen Doppelrevolution 1917 (68ff.). Vermutlich war sie in seinen Augen ein Fanal für den erhofften politischen und ökonomischen Umsturz des Kaiserreichs. Folgerichtig wurde Siewert 1918 Mitglied des Berliner Arbeiter- und Soldatenrates und des Spartakusbundes, aus dem die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) hervorging. Die Resultate der Novemberrevolution fanden er und viele Kommunisten enttäuschend, gemessen an der bolschewistischen Revolution 1917. Leider vernachlässigt es Jentsch, Siewerts Aufstieg in der KPD und deren Rolle in die Krisen der frühen Weimarer Republik einzubetten.

Der gefragte Redner und gute Organisator machte schnell Karriere (85). 1919 avancierte Siewert zum Parteisekretär im mitgliederstarken KPD-Bezirk Erzgebirge-Vogtland, den er bis 1924 leitete (83-126). Überdies war er von 1920 bis 1924 Mitglied des Zentralausschusses der KPD und von 1920 bis 1929 Abgeordneter des sächsischen Landtages. Auch hier bleibt Jentsch deskriptiv oberflächlich. Eine systematische Ausarbeitung der KPD-Parlamentsarbeit im sächsischen Landtag und Siewerts Anteil daran unterbleibt.

Als Delegierter des IV. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale (KI) traf Siewert 1922 in Moskau letztmalig Lenin, der versuchte, die KI auf Einheitsfrontlinie einzuschwören und vom Putschismus abzubringen (100). Denn 1922/1923 schien eine Revolution greifbar nahe. Sachsen und Thüringen galten als Projektionsfläche. Dort konnten mittels der "Einheitsfront" sogenannte Arbeiterregierungen mit aufgeschlossenen Sozialdemokraten gebildet werden, die sich dem restriktiven Kurs der Reichsregierung widersetzten. "Als Akteur des 'Deutschen Oktober' 1923" (105-121) war Siewert mittendrin im Epochenjahr 1923, das sich als Kulminationspunkt der Nachkriegskrisen erweisen sollte. Er war permanent unterwegs, ein Privatleben fast unmöglich. Bei der genaueren Darstellung hätte Jentsch auf seine quellengesättigte Dissertation "Die KPD und der 'Deutsche Oktober' 1923" rekurrieren können [1].

Während der Fraktionskämpfe nahm Siewert eine zentristische Position ein. Nach der endgültigen Entmachtung der "rechten" KPD-Führung um seinen Freund Brandler übernahm er verschiedene Parteifunktionen. Er wurde Geschäftsführer im Verlagswesen und organisierte ab 1926 Delegationen in die UdSSR, die sein positives Bild verfestigt haben dürften (145).

Eine Zäsur stellten der Übertritt zur KPD-O zum Jahreswechsel 1928/29 und damit seine erneute Zusammenarbeit mit der Brandler-Gruppe dar. Siewert teilte unter anderem die Kritik an der verfehlten Politik gegenüber SPD und Gewerkschaften. Deswegen wurden sie aus der KPD ausgeschlossen. Die existenziellen Nöte der KPD-O zwangen Siewert jedoch bald zur Rückkehr in seinen erlernten Beruf. Diesen Kontext handelt Jentsch etwas zu lapidar ab. Nach der Machtübernahme der NSDAP organisierte Siewert maßgeblich die illegale Arbeit der KPD-O. Auch sein Sohn Robert war Teil dieses Widerstandes. Beide wurden 1935 verhaftet. Nach seiner zweiten Haftstrafe wurde Siewert 1938 ins KZ Buchenwald übergestellt. Anschaulich schildert Jentsch die Zeit als Häftling (185-244). Beeindruckend ist, wie der über 50-Jährige die Haft bis zur Befreiung 1945 überstand. Dabei half ihm sein berufliches Fachwissen, denn er führte als Kapo eines der drei Baukommandos aus Häftlingen an. Außerdem rückte er in die illegale Lagerleitung auf.

Beim Aufbau in der sowjetischen Besatzungszone wurden Parteikader wie Siewert gebraucht (245-320). Es gab viel zu tun: Entnazifizierung und Säuberung des Staatsapparates, Bildungs- und Bodenreform, Wiederaufbau der zerstörten Städte, Zusammenarbeit mit den neuen Blockparteien im Rahmen der "demokratischen Umgestaltung". Siewert übernahm die Funktion des ersten Vizepräsidenten und Innenministers der Provinz Sachsen. Als Präsident fungierte der bürgerliche Hitler-Gegner Erhard Hübner. Walter Ulbricht persönlich beauftragte Siewert mit den Worten, wer durch Zuchthaus und KZ gegangen und standhaft geblieben sei, könne mit Hilfe der Partei auch höhere Verwaltungsfunktionen übernehmen (253). Die Warnung seines einstigen Mitstreiters Thalheimer, wer als Revolutionär mit den Besatzungstruppen kollaboriere, diskreditiere sich bei der Bevölkerung, nahm Siewert wohl zur Kenntnis (258-259). Gleichwohl stellte er sich unbeirrt in den Dienst der neuen Staatsgewalt. Ebenso unbeirrt stand er zur "Einheit" von SPD und KPD und stimmte der Zwangsvereinigung zu (293).

Warum Siewert 1950 von seinen Funktionen als Vizepräsident und Innenminister abberufen wurde, kann der Biograf nicht abschließend beantworten (322). Ob er für seine ehemalige Mitgliedschaft in der KPD-O im Rahmen der laufenden Parteisäuberungen bestraft wurde oder es sich um interne Rivalitäten diverser Apparate handelte, bleibt offen. Für Jentsch steht fest, dass insbesondere erstere nicht "spurlos" an Siewert vorbeigegangen sein konnte. Der Abschnitt zu den "Nachklängen der Mitgliedschaft in der KPD(O) - Kritik und Selbstkritik" gehört zu den stärksten Passagen.

Die Degradierung zum stellvertretenden Hauptabteilungsleiter im Ministerium für den Aufbau der DDR hielt Siewert indes nicht davon ab, sich zwei Projekten zu verschreiben: dem Wohnungsbau und dem Aufbau einer antifaschistischen Erinnerungskultur als "engagierter Zeitzeuge und Streiter zur Erfüllung des 'Schwurs von Buchenwald'" (355) zu dienen. Siewert blieb bis zum Lebensende ein engagierter Streiter für die DDR.

Jentsch hat ihm eine längst überfällige, zitatenreiche Biografie gewidmet, die zu weiteren Forschungen anregen sollte. Daran ändern auch einzelne darstellerische oder inhaltliche Kritikpunkte wenig. Ein doppelter Fauxpas, wie der Zahlendreher 1987 statt 1887 sowohl im Inhaltsverzeichnis als auch in der Überschrift zu Kapitel 1 (17) wäre zu vermeiden gewesen.


Anmerkung:

[1] Harald Jentsch: Die KPD und der "Deutsche Oktober" 1923, Rostock 2005.

Jens Becker